Autokorsos hupen sich durch die Stadt, als wäre der Messias gekommen. Volltrunkene Horden brüllen germanische Volksgesänge: "Steh auf, wenn du Deutscher bist". Wo man mit Jägermeister unter schützenden Flaggen regredieren darf, findet auch instinktiv ein "Deutschland, Deutschland über alles" ans Tageslicht. Ein Herr Schweinsteiger, anscheinend ein derzeit vielbeachteter Fussballer, kommt ganz locker auf den Topos der zum Sieg notwendigen "deutschen Tugenden" zu sprechen. Der Moderator befragt dazu nochmal den als Allmeister angestellten Repetitor des Geschehens Günther Netzer. Der zückt die Bombe: "Deutsche Tugenden sind ja nichts schlechtes. [...] diese deutschen Tugenden sind ja auch ein Grund, warum wir so gefürchtet sind."
Merkel posiert in ehrlicher Verzückung und repräsentiert ein sattes "Wir". Antirassistische Predigten zu Beginn der Spiele vertünchen das Bedrohliche der Masse. Deren integrative und verfolgende Beliebigkeit wird mit dem Begriff des Rassismus doch nur verharmlost. Solange alles friedlich bleibt, hat man nur trainiert. Das Massenfest ist eben kein sportliches: Wäre es ein solches, man könnte sich auch bloß individuell und leise an der Schönheit eines Spieles wie jenem der russischen Nationalmannschaft gegen die holländische freuen. Der Furor teutonicus spottet solchem harmlosen Vergnügen. Es sind nicht Fussball- sondern Deutschlandfans, die sich hier zusammenrotten. Jener Moderator, der darum flehte, dass alles friedlich bleiben möge, spürte feinsinnig die elektrisch knisternde Angst, die das solcherart sinnentleert verschweißte Kollektiv verbreitet.
Die im Kapitalismus erzwungene und antrainierte Kooperationsfähigkeit der Individuen findet sich wieder im Wettkampf auf dem Rasen. Kulturindustrie verdoppelt nur die Formen der Arbeit. So jagt man wie im Beruf dem automatischen Subjekt nunmehr dem Ball hinterher. Verselbstständigte Zufallsprodukte wie Tore beim Elfmeter werden gemäß der bürgerlichen Ideologie als verdienter Erfolg gefeiert, an dem allerdings nun nicht mehr das Individuum seinen Gewinn einfährt, sondern die Masse ihre individuellen Ängste und Nöte kompensiert. Anstatt wirklich die verprassten Ressourcen für ihre tatkräftige Organisation gegen die ihnen angediehenen Zumutungen von Rente mit 67 bis Hartz 4 verwenden und sich in ähnlichen Massen zur freien Assoziation zusammenzuschließen, verzerrt die Triebabfuhr beim Torjubel die Gesichter der uniformierten Meute. Zu der Empathie, die sie ihren Spielern entgegenbringen, sind sie weder sich selbst noch anderen Individuen gegenüber fähig. Solidarität wird durch Dünkel und schweißdurchtränkte, alkoholisierte Nähe ersetzt. Das in schwarzrotgoldene Lumpen gehüllte Proletariat vermag sich noch über Bildstörungen beim Halbfinale zu echauffieren, wo es zur ernsthaften Rebellion, zum Streik, nicht taugt.
Günter Netzer
(27.6.08 12:57)
Tatsächlich hat Netzer bezüglich deutschen Tugenden gesagt: "damit verbreiten wir überall Angst und Schrecken"
Man muss allerdings sagen, dass Netzer in diesen schwarzrotgoldenbierseligen Tagen sogar ein Lichtblick ist: immer korrekt gekleidet, mit gepflegter aber komischer Frisur und einem einzelgängerischen spöttisch-gelangweilten Habitus, der sich weigert auch dort noch was tolles so zu sehen wo objektiv schlecht gespielt wurde, sticht er aus der Masse der blindwütig-amorphen Hurra-Fans mitunter noch angenehm hervor
lebowski
/ Website
(27.6.08 19:22)
@Günter Netzer
Yep! Netzer war einer der wenigen Lichtblicke.
Allerdings kann man auch nur gut aussehen, wenn man neben Waldis EM-Club, Nachgetreten, Interviews von Monica Lierhaus und der Geistesferne eines Kerner bestehen muss.
Nichtidentisches
/ Website
(28.6.08 17:54)
Öhm, ich habe ihn gesehen, meiner Meinung nach hat er die "deutschen Tugenden" sehr positiv bewertet und das "gefürchtet" als Lob vorgebracht. Wenn ihr ein Skript habt, lasse ich mich gerne eines besseren belehren.
D.
(29.6.08 17:04)
Laut
http://www.faz.net/s/RubD99FB9FEFB654D91BF05D
AEF190F9E4B/Doc%7EE846BC0E1F45C4F39A39579C
AAB4BE2A6%7EATpl%7EEcommon%7EScontent.html
?rss_aktuell
sagte Netzer:
„Deutsche Tugenden haben wir immer noch am besten“
und:
„Dafür fürchtet man uns, und damit verbreiten wir Angst und Schrecken.“
Günter Netzer
(29.6.08 17:06)
Ohja, natürlich hat Netzer das positiv und als Lob gemeint, etwas anderes wollte ich auch gar nicht andeuten ... Ich meinte nur dass er solchen Phrasen zum trotz noch halbwegs angenehm zu schauen ist, da er verglichen mit den sinnfrei vor sich hin brabelnden Kerner&Co doch ein angenehm herausstechendes Unikat ist
Ansonsten: Gestern war in der SZ ein interessanter Artikel, der darüber aufklärt dass das Stadion, wo heute das Finale stattfindet, unter dem Nationalsozialismus schon als improvisiertes KZ für Judendeportationen benutzt wurde:
http://www.sueddeutsche.de/,tt8m4/sport/
weltfussball/special/960/142646/index.html/
sport/weltfussball/artikel/596/183028/article.html
Wie kann man nur bar jeder Ironie, ohne jeden Humor, über Fußball schreiben? Ja, glaubt man denn tatsächlich, dass jeder der feiert, mit seiner Mannschaft fiebert, vielleicht sogar für Momente mit der Masse verschmilz deswegen seine reflektierende Ebene verliert, und obendrein alles ernst nimmt? Und den Kommerz "dahinter" nicht bemerkt?
Elfmetertore sind - auf der Makroebene betrachtet - alles andere als Zufall, nicht anders als jedes andere Tor, jeder andere Schuss während des Spiels.
Um nicht missverstanden zu werden, ich finde den Artikel gut, nur nimmt er sich selbst zu ernst, und unterstellt, dass sich kein "Fan" über sein Handeln Gedanken macht. Ich glaube, dass das im Allgemeinen nicht stimmt, da gerade bei der EM viele Zuschauer zu den Spielen strömten, die normaler Weise wenig daran interessiert sind.
Abgesehen davon glaube ich, dass im Menschen ein Bedürfnis vorhanden ist, das dazu drängt das Individuum zu übersteigen, wie auch immer sich das äußert - Mystik, Rausch, Kollektiv, Liebe, Freundschaft etc. -, solange man seine Ironie bewahrt, was magst Du (ist, hoffe ich, in Ordnung) ihnen denn vorwerfen?
Und selbst wenn, ein Vorwurf vermag mir kaum von den Fingern gleiten. Es kommt mir ein wenig vor wie wenn man jemandem vorhält, dass er gestern Abend drei Flaschen Bier getrunken, und ein wenig Schabernack getrieben hat.
MBT SHOES
/ Website
(25.8.10 04:51)
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